Vincenz Frigger

Schaffen im Verborgenen (1945 - 1960)

Schon vor dem Krieg hatte mein Vater sich an größere Formate und die Technik der Ölmalerei gewagt. Er war Autodidakt, eine systematische Ausbildung fehlte ihm. Aber sein Bedürfnis, sich bildnerisch auszudrücken, trieb ihn unwiderstehlich dazu, auf eigene Faust seinen Weg zu suchen. Er studierte anhand von Kunstbänden die alten Meister und erarbeitete sich die handwerklichen Fähigkeiten, welche die Grundlage für seine gesamte malerische Entwicklung werden sollten. Von dieser Zeit zeugen insbesondere Bilder wie „Die Näherin“ und die Selbstporträts.

Nach dem Krieg begann die Auseinandersetzung mit der Moderne. Er entdeckte den Impressionismus und Expressionismus und verfolgte mit Begeisterung die weitere Entwicklung der modernen Kunst. Zunächst lehnte er sich stark an seine Vorbilder an. Aber sein Vorgehen war schon damals weit mehr als reines Kopieren: Er verwandelte sich die Elemente an, die er von den Meistern übernahm.
Nachdem er sich auf diese Weise durch die Epochen der Kunstgeschichte gearbeitet hatte, fand er schließlich Mitte der 50er Jahre zu seinem eigenen Stil.

Ein interessantes Zeugnis für die Zeit des Suchens und Findens ist eine Auseinandersetzung in der Tageszeitung „Westfalenpost“. Die Stadt Menden hatte meinem Vater die Gelegenheit gegeben, zu Beginn der Kultursaison 1958 im Städtischen Museum einen Überblick über seine in den vergangenen 10 Jahren entstandenen Werke zu geben. Anlässlich dieser Ausstellung kam es zu einer Auseinandersetzung, die zeigt, wie wenig selbstverständlich es offenbar im Jahr 1958 für einen Künstler war, sich der Abstraktion zuzuwenden, wenn er nicht der Avantgarde angehörte. Da der Schlagabtausch über den Einzelfall hinaus von allgemeinem Interesse sein dürfte, sind beide Artikel im "Archiv" nachzulesen (Nr. 1 "Umwelt verlangt modern" und Nr. 2 "Werke von Vinzenz Frigger im Spiegel der Meinungen").

Starke Anregungen empfing der junge Maler von der Landschaft seiner neuen Heimat, der Soester Börde. Mehrfach äußerte er mir gegenüber, dass er die Berge des Hochsauerlandes als beengend und bedrückend empfunden habe. Die weite Ebene, die dem Blick keine Grenzen setzt, begrüßte er emphatisch (Weites Land mit Kranichen). War es in der Heimat der Wald gewesen, der ihn faszinierte, so sehr, dass er Zeit seines Lebens ein Ur-Thema blieb, so waren es jetzt die herbstlichen Korngarben und die auf den fruchtbaren Böden arbeitenden Menschen: (Landarbeit in der) Dämmerung.

Eines Tages entdeckte er ein Motiv, das ihn mehrere Jahre beschäftigen sollte: das Motiv der liegenden Kühe. In immer neuen Ansätzen versuchte er, die Ruhe und Behäbigkeit dieser großen, wiederkäuenden Tiere in immer stärkerer Reduzierung der Formen einzufangen, bis er schließlich zu einer überzeugenden Vereinfachung gelangte (Kühe). Hier kündigte sich bereits der Übergang zur Abstraktion an. Ein weiteres Beispiel für diesen Übergang ist auch das Aquarell „Schlafendes Dorf“. Ich erinnere mich, dass mein Vater es kommentierte mit dem Hinweis auf die unterschiedlichen Menschenschicksale, die ein jedes Haus beherbergt: leidvolle, glückliche, tragische.

Ein anderes Motiv, das ihn damals faszinierte, war der Clown. Immer wieder suchte er die Tragik des Menschen darzustellen, dessen Beruf es ist, andere Menschen zum Lachen bringen, auch wenn ihm selbst zum Weinen ist (Clown mit Kind und Trauriger Clown).

Das Dorf Büderich, seine neue Heimat, verfügte in den 50er Jahren über großen Charme. Es lieferte ihm immer neue Anregungen: die Dorfmitte mit der alten Pumpe (Büderich: Alte Pumpe), der altes „Backes“ (ehemaliges Backhaus) eines großen Hofes (Büderich: Backes), die Gegend am Sportplatz (Büderich: Am Sportplatz). Die liebevolle Darstellung dieser Motive hat neben ihrer künstlerischen Umsetzung heute bereits historisch-dokumentarischen Wert.

Gemeinsam begründeten meine Eltern in den 50er Jahren eine Art Kulturprogramm in unserem kleinen westfälischen Dorf. Meine Mutter, schauspielerisch begabt, stellte eine Laienspiel-Gruppe zusammen, die im Randelhoffschen Saal Theaterstücke aufführte. Darunter waren Stücke in Plattdeutsch, deren durchschlagender Erfolg insbesondere dem Bürgermeister des Dorfes, Franz Mawick, zu verdanken war: Seine westfälische Originalität und Begabung zur Komik waren mitreißend.

  • Kunstkarten
  • Vorträge und Ausflüge organisierten meine Eltern insbesondere für die Landfrauen: Ihr selbstverständliches Los war es, sieben Tage in der Woche durch die Versorgung der Tiere gebunden zu sein. Insbesondere durch die Ausflüge eröffnete sich ihnen nun die Möglichkeit, wenigstens für einen Tag aus diesem Rhythmus auszubrechen.

    Seit 1956 machte unsere Familie jeden Sommer Urlaub (an einem Ort innerhalb Deutschlands), was damals noch keineswegs üblich war. Wie meine Eltern das finanziell leisten konnten, ist mir bis heute ein Rätsel. Aber es gehörte zur Philosophie meiner Mutter, das ganze Jahr über eisern zu sparen und nach dem Urlaub nicht nachzurechnen, was er gekostet hatte.
    Einer dieser Urlaube hat sich besonders intensiv im malerischen Werk meines Vaters niedergeschlagen: die Nordsee in Greetsiel bei Emden (Greetsiel, Nächtliche Boote).

    Zu einem Schlüsselerlebnis wurde dann die Documenta III. Den gesamten Urlaub verbrachten wir 1964 in Kassel und gingen jeden Tag in die Documenta. Hier sah mein Vater zum ersten Mal die Bilder seines Favoriten, Alfred Manessier, im Original. Ihm fühlte er sich seelenverwandt. Die Farbgebung und die Formensprache dieses Malers, der seine gläubige Grundhaltung nicht verleugnete, begeisterten ihn und beeinflussten ihn natürlich.

    Gibt es das: Religiöse Kunst? Religiöse Formensprache? Wohl so wenig wie religiöse Mathematik. Kunst hat ihre Eigengesetzlichkeit. Und dennoch ist es ein Unterschied, ob ein Künstler die Welt als Zufallsprodukt deutet oder als Schöpfung, die trotz aller Entstellung doch aus einem letzten Sinngrund hervorgeht und von ihm getragen wird. Und es wäre seltsam, wenn sich eine solche Weltdeutung nicht auch im künstlerischen Schaffen niederschlagen würde.

    Im Werk meines Vaters fehlen die dunklen Töne nicht. Insbesondere die Darstellung der Menschen, die er zeichnete und malte, enthält häufig einen sehr herben Zug. Aber besonders in den abstrakten Bildern dominieren dennoch nicht die zerstörten und verbrannten Formen – sie kommen vor – (Verbrannte Formen), sondern sowohl in den durch die Natur inspirierten Bildern (Wald und Wald) wie auch in den Städtebildern (Assisi, Amsterdam, Rom und Südliche Stadt) und den rein abstrakten Kompositionen finden wir neben dunklen Tönen eine lebensbejahende Konstruktivität und Helligkeit (Österlich, Januar, Dunkle Sonne und Holländische Landschaft).

    Die Deutung der Welt als Schöpfung ist ein Boden, auf dem der Humor zu wachsen vermag. Insbesondere in den Tuschzeichnungen gibt es mancherlei Studien, die zum Schmunzeln anregen, sei es der auf einem Bein stehende Marabu-Storch mit dem Titel „nachdenklich“ oder die Zeichnung „Premiere“, die einen Raben zeigt, der sich mit weit aufgerissenem Schnabel auf der Bühne vor einem großen Publikum produziert.

    Anerkennung erfuhr mein Vater in den Büdericher Jahren bei aufgeschlossenen, sensiblen Dorfbewohnern insbesondere hinsichtlich seiner kirchenmusikalischen Aktivitäten. Denn an hohen Feiertagen blieb es nicht bei Chorgesang und festlichem Orgelspiel. Mein Vater engagierte (und bezahlte aus eigener Tasche) Solisten und kleine Ensembles, und führte mit ihnen Werke von Mozart, Haydn und Händel auf, wobei er selbst an der Orgel saß oder einen Geigen- oder Bratschenpart übernahm.

    Hinsichtlich seiner malerischen Tätigkeit waren es „die Mendener“, die seinen Weg begleiteten. Das war ein Kreis von Kunstfreunden, darunter ein Architekt, ein Maler, ein Buchhändler, ein Lehrer und Stadtdirektor, die mit ihren Ehefrauen regelmäßig nach Büderich kamen, um die neu entstandenen Werke zu begutachten. Für mich waren diese Besuche – nach meiner Erinnerung begannen sie, als ich 10 Jahre alt war – jedes Mal ein aufregendes Ereignis. Da wurden Gespräche geführt, die dem Dorfkind einen Blick in die große weite (Kunst-)Welt eröffneten. Sicher habe ich damals nur einen Bruchteil der anspruchsvollen Diskussionen verstanden, aber allein die Atmosphäre dieser Gespräche war faszinierend.

    Die Besucher ihrerseits priesen die Originalität und Gemütlichkeit des Küsterhauses. Es war ein wunderschönes altes Fachwerkhaus mit niedrigen Balkendecken, das seine eigene Geschichte hatte. Auf den sechs Platten der Haustür hatte mein Vater sechs Generationen, die vor uns in diesem Haus gelebt hatten, in Symbolen dargestellt. Als das Haus wegen angeblicher Baufälligkeit abgebrochen wurde, hat ein Unbekannter diese Haustür sichergestellt. Ich hätte gern ein Foto von ihr und würde mich sehr freuen, wenn der Unbekannte Kontakt mit mir aufnehmen würde.

    Leider wurde beim Abriss des Hauses auch das Sgraffito zerstört, das mein Vater Ende der 50er Jahre neben der Haustür an der Außenwand angebracht hatte. Es zeigte eine Madonna mit Kind.

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