Westfalenpost, 1956(?)

Blaue Stunde - ohne Novalis

Der Maler von heute kann nicht anders - Natur ist nicht nur das Sichtbare

Büderich. War es Sinnestäuschung, hatte sich die Sonne tatsächlich einen Schleier umgelegt? Auf jeden Fall sah man die Natur nachher anders. Eine Stunde mit Vinzenz Frigger, und man war aus dem Alltagsgleis geworfen. Wie nach Exzerzitien. Den andern erging es nicht anders, nämlich zwei Dutzend Berufsschullehrern aus Hamm.

Es hatte eine Diskussion sein sollen, was sich in der Turnhallenaula der neuen Schule abspielte, aber es war eine Aussage: Vinzenz Frigger über sich selbst, Anmaßung? Gewiß nicht. Es, war ein so spannendes Kolleg, daß niemand mehr wagte als eine gelegentliche Ergänzungsfrage. Und es war mehr als ein Kolleg. Eine Stunde lang erläuterte Vinzenz Frigger an seinen Bildern - er hatte zwei oder drei Dutzend mitgebracht -, was die moderne Kunst will. Er sprach sicher, gelöst, mit einer Heiterkeit, die nichts mit Komik gemein hat, sondern Bereichen entwächst, die man nur scheu andeuten kann, So sehr man sich auch vor großen Worten zu wehren sucht, es fällt einem nichts Besseres ein. als der Vergleich mit Novalis und seiner, blauen Blume. Es war eine blaue Stunde, die zu einer köstlichen Erinnerung fürs ganze Jahr, vielleicht gar fürs Leben heranreifen wird.

Ein Vergleich mit Novalis ... Hier stockt der Gedankenfluß. Schon die Impressionisten hätte Vinzenz Frigger als Romantiker bezeichnet, als eine Epoche, die längst vergangen ist und der Aussage der Gegenwart fernsteht, Vielleicht war ihm das Wort unbedacht entfahren, aber unversehens war es da: "Atombilder." Atomisierung, Zersplitterung, schließlich Auflösung der Form, "Die einen haben über mein Bild von Werl gelächelt, weil sie sich nichts in ihm vorstellen konnten, ein anderer war auf Anhieb verliebt." Scherzhaft bemerkte Frigger einleitend, es sei gut, wenn man sich hinter einem Verantwortlichen verstecken könne, und zwar hinter Cézanne. Mit ihm hat die moderne Kunst angefangen. Aber das Bemerkenswerte an ihm liegt nicht darin, daß er eine Schule begründete, sondern eher darin, daß sich heute kein Maler mehr nach einem andern ausrichten kann. Cézanne zerschlug aber nicht, sondern er ahnte ein neues Weltbild, das inzwischen Wirklichkeit geworden ist.

Was ist Natur? Das Mittelalter kannte die klar gegliederte, die erlöste, die heilige Landschaft, im Impressionismus sprühte sie vor Farben, heute suchen wir nach ihrem Innenleben. Das ist keine sich interessant gebende, allenfalls abseitige Angelegenheit, sondern eine Existenzfrage, Im Innern der Natur - sie ist keineswegs nur Oberfläche - vollziehen sich Prozesse, Spannungen ballen sich, entladen sich in Katastrophen oder auch in Wärme eines Sommertags. Seit der Mensch mit diesen Kräften hantiert, liegt die Drohung über ihm; ein einziger unbedachter Entschluß kann jedes Leben auf der Erde auslöschen. Energien kann man nicht sehen, man kann sie nur in ihrer Wirkung darstellen, ein Unterfangen, zu dem weder sprachliche noch farbliche Fixierungen bereitstehen. So sprach Frigger von einer "vertoteten" Sonne, einem "geladenen" Tier, einem "Schreier im Getto". Unser Weltbild ist in so raschem Wandel begriffen, daß verbindliche Formulierungen schon nach ihrem Entstehen entwertet wären.

Längst waren, Zwischenbemerkungen erstorben. Die Zuhörer mühten sich vielmehr mit sichtlicher Anstrengung, dem Vortrag zu folgen. Sie waren eingesponnen in ein erregendes Fluidum, das keinen Seitenweg zuließ. Nicht, als ob der Maler erbarmungslos sezierend die Hilflosigkeit unserer Zeit bloßgelegt hätte, der Blick in die Werkstatt eines schöpferischen Menschen - soweit er überhaupt freigegeben werden darf - hatte solches Verlangen geweckt, daß niemand hätte ausbrechen können oder wollen. Und es war mehr als Verlangen. Man spürte es nachher. Es war in der Tat eine blaue Stunde gewesen; Vinzenz Friggers Bilder sind Lyrik in Farben, gebaut aus tiefer Einsicht, aber in ihrem Antrieb entstanden aus dem Gefühl, das sich über den Augenblick hinaus bewahren will. Aber es war dennoch keine Stunde behaglichen Genießens. Im Gegenteil. Als er seinen Exkurs beendet hatte - es waren Anschnitte von, hundert Gedanken gewesen -, wurde er nach einer Minute des Zurücktastens durch einen Anprall von Fragen überschüttet. Man betrachtete noch einmal grüppchenweise die Bilder, tauschte Ansichten aus, aber viel interessanter waren die Fragen um den Menschen Frigger und um die moderne Kunst. Es waren Fragen, die aus einem unruhigen Herzen kamen, und sie hörten auch nicht auf, als man wieder auf den Schulhof getreten war. Es könnte sein, daß gestern eine Fackel entzündet wurde.

-ff.

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